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Die Anatomie des Tieres

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Montag. 11ter Januar.
Ich bin durchschnittlich groß gewachsen, männlich, Anfang 20. Habe keine nennenswerten körperlichen Schäden und ein durchschnittliches soziales Umfeld. Ich falle dir nicht auf.
Religion ist für mich ein Götze. Ich wurde neutral erzogen, kannte dennoch Vorurteile. Seit jeher gilt für mich: Der Mensch, die Menschlichkeit, das Menschsein. Es ist mir alles zuwider. Die Lüge, die Verlogenheit, das Lügen. Daher beschäftige ich mich seit geraumer Zeit mit der Anatomie des Tieres. Ich verschlang Fachliteratur jeder Art, nicht ohne während meiner Forschung auf Grenzen zu stoßen. Wie funktioniert es? Wie fühlt es? Fühlt es überhaupt? Kann es lieben? Kann es hassen? Ich will ihm zusehen. Beim Fühlen. Der Gedanke ist schön. Und ja: Glück. Ich spüre so etwas wie Glück dabei. Bald kann ich die Augen öffnen, um zu sehen.



Mittwoch. 17ter Februar.
Keine Sonne, leichter Wind. Die Vorbereitungen sind soweit abgeschlossen. Das Tier, die nötigen Instrumente und Medikamente, es ist alles hier. Die Konsequenzen? Wurden bedacht. Ich glaube nicht, dass ich etwas übersehen habe, hoffe es zumindest. Nein, ich bin mir dessen ziemlich sicher. Meine Aufzeichnungen sind komplettiert, ich kenne den Ablauf. Alles wurde abgestimmt: Ein Cocktail aus Aprotinin gegen die Blutung, Naproxen gegen die zwangsläufig auftretenden Schmerzen und Adrenalin steht bereit. Ebenso eine niedrig dosierte Kochsalzlösung. Wechselwirkungen vernachlässige ich. Es muss nur schnell genug gehen. Schnell genug. Ich wiederhole es immer wieder. Es muss schnell gehen, bevor die Injektion tötet. Das Tier wird nicht stärker leiden als irgend nötig. Liegt auch in meinem Interesse. Ich habe nicht vor, irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Der Küchentisch wurde bereits letzte Woche mit zwei massiven Kanthölzern verstärkt – die wohl einfachste Aufgabe in diesem Spiel, außerdem liegt ein knappes Dutzend sterile Operationstücher bereit. Hoffentlich mehr, als ich benötigen werde. Man weiß vorher nie wie groß die Sauerei wird. Ich bin gespannt, denke aber, auf alles reagieren zu können.
Der genaue Zeitpunkt des Experimentes fehlt noch. Ich hoffe, in den nächsten Tagen genügend Kraft dafür zu finden. Die menschliche Natur ist lähmend. Widerlich. Abstoßend. Ich könnte sofort beginnen. Und kann es nicht.



Donnerstag. 18ter Februar.
Der Himmel ist bewölkt, der Wind geht leicht. Immer noch. Nach einer kurzen, unruhigen Nacht stehe ich auf. Ich dusche mich gründlich, mache mich frisch. Bestmöglich. Auf Essen verzichte ich.
Habe mich endlich überwunden. Keine dreißig Minuten später liegt das Tier auf dem Küchentisch. Rücklings. Schwer atmend, kein Haar am Körper. Die Injektion ist schnell gelegt. Erst die Arterie punktieren - keine Blutung, gut. Dann die Chemie. Innerhalb von Sekunden wird die Substanz im gesamten Organismus verteilt. Nichts passiert, trotzdem drängt die Zeit. Es wird sterben. Ich setze das Skalpell am linken Rippenbogen an. Schneide.
Als Kind hatte ich meinen Eltern ein kleines Taschenmesser aus der Gästetoilette gestohlen. Es war stumpf, die Klinge keine vier Zentimeter lang. Dafür hatte es eine integrierte Nagelfeile und einen Nagelschneider. In dem Alter war es natürlich begehrlich. Wenn ich mit meinen Freunden draußen spielte, fühlte ich mich wie ein Pirat. Oder ein Abenteurer. Mit der matten Klinge ritzte ich schnörkelige Schriftzeichen in nahezu alle Bäume des nahe gelegenen Wäldchens. Die Alten weinten, sahen sie mich. Ich schnitt die Borke. Tiefer das Bast, tiefer das Holz. Das Harz lief zäh meinen Fingern entgegen. Es schmeckte bitter. Die Ringe zählend drang ich tiefer ein. Es pulsierte. Spritzte. Quoll hervor. Kam ich nicht weiter, schnitt ich woanders. Bis das Innerste zu mir sprach. Blitzte. Kein Hass. Die Rinde blätterte wie Haut. Nur Tränen. Ich konnte den ersten Ring sehen. Spüren. Drang woanders ein. Schnell. Wiederholte es. Bis das Messer brach. Nur  ein Spiel – Spiel vorbei.
Das Skalpell entgleitet meinen zitternden Fingern. Fällt sekundenschwer. Hier ist Schluss. Der starke Blutverlust reißt mich weg, das Adrenalin versagt.
  


Du kannst nicht gegen dich.
Ich kann nicht gegen das Tier.
Versuch es doch.
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Comments3
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Stiefelsche's avatar
Starker Schluss!
Der Spannungsbogen sitzt auf den Punkt genau, mein Kompliment.